So weit sind die Weiten Brandenburgs

Weniger und größere Wahlkreise? Davon hält eine Bundestagsabgeordnete gar nichts. Sie hat genug zu tun.

Bei den Bundestagswahlen ist Deutschland in 299 Wahlkreise aufgeteilt. Auch zur Wahl im kommenden Jahr, es sei denn, das Wahlrecht wird noch geändert. Dazu gibt es zwar viele Vorschläge, aber eine Entscheidung scheint weit weg. Die Wahlkreise werden von Norden nach Süden nummeriert. Nummer 60 ist einer der zehn brandenburgischen Wahlkreise und einer der größten überhaupt, was schon sein ellenlanger Name zeigt: Brandenburg an der Havel I – Potsdam – Mittelmark I – Havelland III – Teltow Fläming I. Hier gewann vor drei Jahren Dietlind Tiemann und zog mit 62 erstmals in den Bundestag ein.

Im nächsten Jahr will sie ihren Wahlkreis verteidigen. Sie gehört zur CDU und ihr Sieg schmeckte der Partei besonders süß, weil der Wahlkreis bis zum Auftritt von Tiemann fest in sozialdemokratischer Hand war. Ihr Vorgänger war Frank – Walther Steinmeier, bis er 2017 Bundespräsident wurde. Der Niedersachse Steinmeier hatte mit der Gegend eigentlich nichts zu tun, er bekam den Wahlkreis 2008 sozusagen von seiner Partei übergeben, als er in den Bundestag wollte. Ab und an, so wird berichtet fuhr der Außenminister in schwarzer Limousine vor, schüttelte Hände und war wieder fort. Eine hübsch gelegene Ferienwohnung auf dem Dorf ist ihm von seinem einstigen Wahlkreis geblieben.

Dietlind Tiemann, vergleichsweise unbekannt, muss sich da ganz anders kümmern, sie muss „ackern“ und „Klinken putzen“, um den Wahlkreis auch künftig „zu ziehen“, wie das im Abgeordnetenjargon heißt. Gegen Steinmeier hätte Tiemann keine Chance gehabt. Jetzt als Gewählte muss sie sich möglichst überall bekanntmachen. Immerhin war sie zuvor Oberbürgermeisterin in der Stadt Brandenburg, das hilft schon mal. Auch ist sie früher viel herumgekommen, als sie im Baugeschäft arbeitete. In ihrem Abgeordnetenbüro hängt eine Wahlkreis – Karte, die mit grünen Punkten übersät ist – alles Orte, die Tiemann zum ersten Mal besucht hat. In der Ferienzeit hat sie dazu mehr Gelegenheit als im laufenden Parlamentsbetrieb. Urlaub braucht sie nicht, „ist ja der schönste Wahlkreis“. Und so begibt sie sich zu Praktikumstagen in die Landwirtschaft und in den Forst, demnächst in die Pflege. Oder sie sammelt ein paar Termine und macht eine Tagestour.

Wobei der Wahlkreis so groß ist, dass es gut auch eine Zweiwochentour sein könnte. Aber egal heute heißt das erste Ziel Kloster Zinna, südlich von Berlin gelegen, Teil der Stadt Jüterbog und tatsächlich durch eine Klosteranlage ausgezeichnet, in der ein paar Jahrhunderte lang Zisterzienser lebten. Die Kirche gibt es noch, auch das Abthaus, das Kloster freilich seit dem 16. Jahrhundert nicht mehr. Das Museum im Abthaus hat knapp 90 000 Euro aus dem Programm „Investitionen für das nationale Kultureinrichtungen in Deutschland“ bekommen, also aus einer Geldquelle im Haus von Kulturstaatsministerin Monika Grütters.

Wenn die örtliche Bundestagsabgeordnete kommt, dann ist nicht nur die Museumsleitung da, sondern auch die Stadtverwaltung Jüterbog sowie Kommunal- und Landespolitiker. Merke: Der Wahlkreisinhaber ist ein heiß begehrter Gesprächspartner. Tiemann und ihrem Tross fällt auf, wie viele Besucher und Familien vor allem, an diesem Vormittag das Kloster besuchen. Es lohnt sich also, hier zu modernisieren und die etwas muffig gewordene Heimatmuseumsausstellung von Ende der neunziger Jahre fortzuräumen. Kloster Zinna ist auch viel bedeutsamer als ein Grenzort zwischen Sachsen, Brandenburg und Böhmen. Im Abthaus wurde bei gutem Essen so mancher Konflikt beigelegt und manche Grenzstreitigkeit erledigt. Das Kloster war direkt Rom unterstellt und, was das Weltliche anbelangt, direkt dem Kaiser. Darin steckt mehr als nur ein bisschen lokale Geschichte, geradezu europäische.

Eine Dreiviertelstunde lang läuft Tiemann durch das Museum, durch kleine und große Räume, enge Treppen, dunkle Kellergänge, alles aus Backstein. Und dann wird ihr noch einmal eine Dreiviertelstunde lang das neue Konzept des Museums präsentiert, in dem es vor allem um den Abt und das Klosterleben gehen und viel Interaktives geben soll.

Merke: Der Wahlkreisinhaber sollte viel Zeit mitbringen, wenn er bei sich zu Hause unterwegs ist. Und er sollte Stehvermögen haben, die Gastgeber haben viel zu zeigen und zu erklären. Was für einen Abgeordneten Alltag ist, ist für sie etwas Besonderes. Tiemann will über all das, was sie in Kloster Zinna gehört hat, an Grütters berichten: Hier geht es voran, das Geld ist gut angelegt, vor allem für den Tourismus. Gleich daneben liegt schließlich eine ganz besondere touristische Attraktion: die Fläming – Skate, eine 230 Kilometer lange Skate – Strecke. Davon profitieren auch Kloster und Ort.

Das Kloster hält Tiemann so lange fest, dass ausgerechnet dort, wo früher bei Verhandlungen üppig getafelt wurde, das Mittagessen ersatzlos gestrichen wird. In Jüterbog vor der imposanten Nikolaikirche wartet schon Pastor Tilemann Wiarda. Seine Kirchengemeine hat aus einer anderen von Grütters verwalteten Geldquelle, den „National wertvollen Kulturdenkmälern“, Fördergelder erhalten, bis zu 200 000 Euro könnten es werden. Um das Dach vor allem geht es, das aber ist so steil, dass die Dachdeckerfirma, die schon angefangen hatte, aufgab. „Finden Sie da mal Ersatz“, sagt der Pastor. „der Fachkräftemangel schlägt voll durch, wir müssen weithin suchen, um Dachdecker zu finden, die mit so einem Bau zurechtkommen. Der Dachstuhl ist aus dem 14. Jahrhundert, praktisch noch original.“ Dann geht es hinein in die Kirche, der Pastor gerät ins Schwärmen. Die Teile der mittelalterlichen Ausstattung, die Farbgebung, vor allem aber die prächtige Orgel von 1909, eine pneumatische, die zwischenzeitlich auf elektrisch umgestellt war. Jetzt funktioniert sie wieder wie früher, zu Pfingsten im vergangenen Jahr war die Einweihung. „Aber die Restaurierung hat einige Jahre länger gedauert als geplant“, sagt der Pastor. „Und die Gemeinde finanziell fast in den Ruin gebracht.“ Aber er wollte gegenüber der Abgeordneten nicht klagen: „Die großen Kirchen haben es alles in allem doch noch leichter. Schwierig ist es bei den kleinen.“ Die Gemeinde in der Klosterkirche von Kloster Zinna etwa sei viel zu klein, „wir werden über kurz oder lang zusammengehen müssen“.

Der Pastor verspricht Kaffee im Gemeindezentrum, und der Landtagsabgeordnete im Tross – er stammt aus Jüterbog – läuft rasch zum Metzger meines Vertrauens“, um belegte Brötchen zu holen. Auf Tiemann wartet derweil eine physische Herausforderung. Da alle auf die Türme wollen, kann auch sie sich schlecht drücken. 217 Stufen, 48 Meter Höhe. „Alles, was ich von oben sehe, ist mein schöner Wahlkreis“, lacht sie. Merke: Ein Wahlkreisabgeordneter darf sich keine Schwäche anmerken lassen. Wieder unten angekommen, bei Kaffee und Brötchen wie versprochen, erzählt Tiemann von ihrer Heimatstadt Brandenburg, von der Sanierung des Pauliklosters, dem heutigen Archäologischen Landesmuseum von Brandenburg. „Da musste ich auch mal auf das Dach und auf dem Ringanker herumlaufen, bevor das Dach geschlossen wurde. Der bauleitende Architekt wollte nur testen, ob ich als Bürgermeisterin höhentauglich bin. Ich musste ihn enttäuschen, ich habe früher in Baufirmen gearbeitet, Höhe macht mir nichts aus.“

Was an diesem Tag noch folgt, nennt einer der Beteiligten später den Höllenritt. Auch in Jüterbog hat alles viel länger gedauert, als es der Zeitplan eigentlich vorsah. Und auch beim dritten Termin an diesem Tag warten sie nun schon. In Kirchmöser, heute ein Stadtteil von Brandenburg an der Havel. Die Firma „Havel metal foam“ hat dort auf einem Gewerbegebiet ihren Sitz, wo in der DDR – Zeit die Sowjetunion ihre Panzer reparierte. Tiemanns Wahlkreismitarbeiterin kündigt am Telefon an, dass es später werde. Dann fährt sie ihre Chefin im „Wahlkreis – Auto“, einem grauen Skoda mit Bundesadler drauf, anderthalb Stunden durch das Land, erst durch viele Dörfer, dann über gleich drei Autobahnen, schließlich mitten durch den Wald. Und immer noch ist hier Wahlkreis 60.

Es ist sommerlich warm. „Havel metal foam“ hat ein paar Erfrischungen bereitgestellt. Und gleich daneben ein paar Anwendungsmodelle ihrer besonderen Technik: Hier wird Aluminium zwischen zwei Platten aufgeschäumt. Das hat einen hübschen Namen: Sandwich. So entsteht ein extrem belastbares Material, das sogar bei Explosionen schützen kann und Feuer übersteht. Vor allem da, wo sich etwas bewegt, könnte das zum Einsatz kommen, in Autos, im ICE, in Panzerfahrzeugen. Tiemann hatte noch als Oberbürgermeisterin vermittelt, dass sich die Firma hier ansiedelte. Zwanzig Mitarbeiter sind es derzeit. Noch geht es nur um kleinere Serien. „Havel metal foam“ könnte aber auch rasch in die Großproduktion einsteigen. Das Gelände erlaubt einen Erweiterungsbau. Max Iann, der Investor und einer der drei Geschäftsführer, lobt: „Wir finden hier am alten Metallstandort Brandenburg gute Facharbeiter, haben Platz, eine gute Anbindung, und die Nähe zu Berlin ist natürlich auch günstig.“ Tiemann muss jetzt nach langem Stehen im Kloster, Treppensteigen in der Kirche und Höllenrittfahrt durch die Weite Brandenburgs auch noch zum Schweißgerät greifen und Aluminium aufschäumen. Es sieht aus, als würden Marshmallows ins Grillfeuer gehalten. Merke: Wahlkreisinhaber dürfen vor nichts Angst haben und sich für nichts zu schade sein.

Wie Tiemann zu einer Wahlrechtsreform steht, braucht man sie eigentlich nicht mehr zu fragen, nach so einem Tag. Reform ja, sagt sie, der nächste Bundestag dürfe nicht noch größer werden. Aber: „Wer leichtfertig sagt, wir reduzieren einfach die Anzahl der Wahlkreise und diese werden noch größer, sollte mich mal an so einem Tag wie heute begleiten.“ So große Wahlkreise wie der ihre müssten aus ihrer Sicht eigentlich einen Flächenbonus bekommen, aber bestimmt nicht noch größer werden. Auch den Vorschlag ihres Fraktionsvorsitzenden Ralph Brinkhaus sieht sie kritisch, neben der Reduzierung der Wahlkreise von 299 auf 270 nur eine bestimmte Zahl von Direkt- und Ausgleichsmandaten zuzulassen und alles, was drüber liegt, zu streichen. Tiemann: „Jeder der einen Wahlkreis gewinnt, soll auch in das Parlament einziehen. Man kann doch nicht sagen: Du bist jetzt zu viel, und dann kriegst du eben nichts, obwohl du einen erfolgreichen Wahlkampf gemacht hast.“ Je kleiner die Partei und je geringer die Chance, Wahlkreise direkt zu gewinnen, desto leichter komme die Idee auf, die Zahl der Wahlkreise zu verkleinern oder gleich ganz darauf zu verzichten. Tiemann sagt: „Auf offiziellen Wahlkreisterminen sehe ich meine Kollegen aus den anderen Fraktionen aus der Region ganz selten.“

Quelle: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 10.08.2020

https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/wahlkampf-was-weniger-und-groessere-wahlkreise-bedeuten-16884164.html